Eine Zeit ohne Kunst

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Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit drei Büchern. Er ist aber weder Rezension noch Kritik, vielmehr wird die schon vollzogene Lektüre der drei Bücher beim Publikum vorausgesetzt. Bei den Büchern handelt es sich um „Der Atem des Himmels“ von Reinhold Bilgeri, um „Das Wetter vor fünfzehn Jahren“ von Wolf Haas und um „Entfernung“ von Marlene Streeruwitz. Allen drei Büchern ist gemeinsam, dass sie von Liebe und Katastrophen handeln und dass sie den Anspruch darauf erheben, als Literatur behandelt zu werden und als Romane, also Kunstwerke, zu gelten.

Zu Liebe und Katastrophen kommen wir später. Jetzt aber wollen wir uns mit Literatur beschäftigen. Literatur – wenigstens im Zusammenhang mit unseren drei Büchern – hat wohl mit Kunst zu tun. Daneben gibt es auch wissenschaftliche Literatur und darunter wieder eine ganze Reihe von Autorinnen und Autoren, die das Handwerk des Schreibens so wunderbar beherrschen, dass die Lektüre, auch jenseits des wissenschaftlichen Zusammenhangs, ein Vergnügen bereiten kann (erwähnt seien an dieser Stelle Karl Marx und Stephen J. Gould, als Autorin möchte ich Heide Gerstenberger anführen). Wir sehen schon, dass Meisterschaft und Kompetenz bei der Beherrschung der Sprache noch nicht auf die Kunst verweisen, und wir haben es aber bei unseren drei Büchern mit Kunst zu tun, wiewohl hier noch nicht alles klar ist. Zwar kann ich mich schon zur Behauptung hinreißen lassen, dass wir es im Fall von Streeruwitz’ Roman mit ganz kostbarer Literatur zu tun haben, möglicherweise wird sie aber, in Rechnung gestellt, wie sie sich theoretisch zur Literatur und da wieder zu ihrem Schreiben äußert, wohl weniger von Kunst und Literatur sprechen als vom Versuch und von der Mühe, eine Sprache zu finden, die den Verwerfungen der Moderne und in ihnen den Frauenschicksalen und dem Frauenschicksal gerecht wird. Bilgeri wiederum wird der sein, wieder in Rechnung gestellt, was wir seinen öffentlichen Äußerungen über sich und seine Tätigkeiten entnehmen können, der am ehesten auf dem Dasein und der Anerkennung als Künstler bestehen wird. Was aber ist es nun, das einen Roman aus der Sphäre der Literatur heraus hebt und ihn zu Kunst macht? Ist es nur meine Zuschreibung?

Kunst begegnet uns im Allgemeinen zwiefach; auf einer begrifflichen Ebene und als Kunstwerk. Auf der begrifflichen Ebene wird es aber gleich ganz vertrackt, denn da stehen uns „künstlich“ und „“künstlerisch“ gegenüber. Zwar verweisen beide, das Künstliche und das Künstlerische,  darauf, dass wir es in Gestalt eines Produkts zu Gesicht bekommen, aber das Künstliche scheint sich zunächst aus der Kunst zurückzuziehen. Wir verbinden mit dem Künstlichen etwas Synthetisches, etwas, das nach einem Vorbild, einem „natürlich“ gegebenen Muster, einem Vorwurf gestaltet wurde mit dem Zweck, dieses nachzubilden, ja sogar zu verbessern und besondere Züge des natürlich Gegebenen hervorzuheben oder zu verstärken. Das ist uns soweit bekannt durch Kunststoffe, Kunstdünger, synthetische Wirkstoffe, die denen von Pflanzen nachgebildet sind, etcet.

Das Künstlerische weist zwar auf eine Kompetenz hin bei der Herstellung dieser Produkte. Gleichzeitig schwingt hier aber eine Vorstellung davon mit, dass das Künstlerische einen eigenen, nicht profanen Gegenstand sein eigen nennt und erst in der Anschauung zu sich kommt und virulent wird. Die Kompetenz bezieht sich dann aber nicht nur auf die Herstellung eines objektivierbaren und evaluierbaren Ergebnisses des Kunstwerks als Nachbildung, Abbildung, Isolierung und Verstärkung von natürlich Gegebenem, sondern auch darauf, dass sie durch einen willkürlichen Akt der künstlerisch Schaffenden, sich für kompetent zu erklären, erst zu Stande kommt. Hier also tut sich ein ähnliches Dilemma auf wie bei Literatur. Wir verbinden das Künstlerische mit einer Vorstellung einer Produktion, die nichts mit wissenschaftlicher Synthese zu tun haben soll, und müssen uns daher der Frage stellen, was denn nun das Vorbild des Künstlerischen ist, woran denn nun die Kompetenz des Künstlerischen gemessen werden kann; anders gefragt, welche besonderen Züge welchen „natürlichen“ Gegenstands das Produkt des Künstlerischen hervorgehoben und betont werden sollen, welcher Gegenstand denn hier sein Abbild trifft. Wenn wir nun als Gegenstand, als Vorwurf des Künstlerischen uns selbst definieren, unsere Gesellschaft, unser Treiben, so haben wir das Künstliche in diese Definition wieder hereingeholt und die Frage beantwortet. Und in der Tat bedeutet eine altertümliche Verwendung des Worts künstlich durchaus auch kunstvoll, entsprechend den Maßstäben der Kunst.

In der Kunst treten wir uns selbst entgegen, verzerrt, idealisiert, verfremdet, überhöht, geläutert, wie auch immer. An dieser Stelle sei aber darauf verwiesen, dass ich mit dieser Definition schon nur noch von moderner Kunst, also von Kunst unserer Zeit, also von bürgerlicher Kunst spreche. Mit moderner Kunst meine ich dann eine Kunst, die nicht mehr an das Religiöse gebunden ist, nicht mehr Repräsentanz Gottes und seiner gottgewollten Ordnung in Kirchen und an Höfen ist. Es ist eine Kunst, die sich das Schöpferische wie das Harmonische Gottes in der Gestalt des bürgerlichen Subjekts angeeignet hat und so daher auch das Künstlerische und das Künstliche in sich und der Person der Schaffenden zu vereinen trachtet.                                                                  

Kunst tritt uns also als Künstliches, als Abbild unser selbst zu unserer Unterhaltung und Erbauung entgegen. Da spielt es jetzt noch keine Rolle, welche Züge und Eigenschaften dieses Abbild hervorhebt, betont, überzeichnet und ob dies in kritischer, satirischer oder erhöhender Absicht geschehen ist. Gleichzeitig tritt uns Kunst entgegen als das Künstlerische, also als das diskursive Verfahren um Kompetenz und Methode. Das Künstlerische nimmt für sich in Anspruch, für seine Nachschöpfung ohne die Mittel der Wissenschaft oder der theoretischen Formulierung des Gegenstands auszukommen. Theoretische Formulierung nimmt die Kunst für sich in Anspruch, wenn es darum geht, das Handwerkliche zu vermitteln, nicht aber das Erkennen und Durchdringen der Gesellschaft als Gegenstand. Vielmehr wird im künstlerischen Diskurs das intuitive Durchdringen, die intuitive Formulierung als das Verfahren der Schöpfung gelehrt und betont, ja sogar der Akt der Schöpfung eines Kunstwerks  prioritär gesetzt gegenüber der nachträglichen Interpretation des Werks. So ist also auch noch das abstrakteste Kunstwerk die präziseste, konkreteste, gegenständlichste Darstellung der intuitiven Erfassung.

Kunst tritt uns aber auch als das konkrete Kunstwerk gegenüber und das tut es in unserer Gesellschaft als Ware. Die Ware aber hat Gebrauchswert und Tauschwert und Preis. Wenn der Preis einer Ware ihren Gestehungskosten entspricht und sich im Tauschwert ausdrückt, so ist, wie der Preis eines Kunstwerks zu Stande kommt, etwas rätselhaft. Um zu unseren Büchern zurückzukommen, so dürften die aktuellen Preise, gebunden oder broschürt, die Tantiemenanteile der KünstlerInnen eingeschlossen, ungefähr diesen Gestehungskosten entsprechen. Sind die Bücher aber selbst das Kunstwerk? Die Frage sieht komisch aus, wird aber noch seltsamer, wenn wir nach dem Preis für eine Festplatte oder CD-ROM oder, bei älteren Semestern, nach dem Preis eines Originalmanuskripts fragen würden, den ein Sammler oder ein Museum zu zahlen bereit wäre. Ähnlich verhält es sich, wenn wir anderer Kunstwerke habhaft werden wollen. Wir zahlen die Eintrittspreise für Konzerthäuser, haben es aber im Grund genommen nur mit vorgesetzten Kopien der Kunstwerke zu tun. Die Originale in Form einer Partitur oder einer Sängerin, die im Haushalt jederzeit zu Verfügung steht, sind größtenteils für unsereins unerschwinglich. Bei einem Museum zahlen wir die Aufbewahrungs- und Erhaltungskosten über unsere Eintrittspreise, das Gemälde, die Skulptur aber zu haben, richtig zu besitzen, wird unser Portefeuille übersteigen. Unsereins kauft keine Originale in der Galerie.

Paradoxerweise wird das Kunstwerk also erst dort zur Ware, wo der Preis nicht mehr mit einem – in diesem Fall ohnehin fiktiven – Tauschwert korreliert. Das erzählt uns nun einiges über den Gebrauchswert, der hier kenntlich wird und nicht mehr mit der schieren Nützlichkeit ineins fällt. Wir müssen uns vergegenwärtigen und ernst nehmen, was es bedeutet, dass eine Ware Gebrauchswert und Tauschwert hat – eine Ware wohlgemerkt, nicht irgendein Ding, das nützlich sein mag. Mit dem Gebrauchswert und der Ware geht es nämlich recht eigentümlich zu. Wenn es nur die Ware ist, die in Gebrauchswert und Tauschwert zerfällt, wenn es nur die Ware ist, die Tauschwert und Gebrauchswert aufweist, dann ist der Gebrauchswert etwas, das vorher, als es noch keine Waren gab, unbekannt war. Dann ist er mehr als schiere Nützlichkeit. Dieser Gebrauchswert spricht nicht mehr von der Nützlichkeit von Dingen (wie auch der Tauschwert nicht vom Wertvollen eines Dings spricht), sondern vom Gebrauch, der von Dingen gemacht wird, wenn sie als Ware auftreten, also für einen Markt produziert werden. Und es ist die Produktion für einen Markt und nicht die Abgabe gegen Geld, die eine Ware ausmachen; eine Ware, die ihre Nützlichkeit eben erst entfalten kann, wenn sie wie eine Ware behandelt wurde, also als Ware produziert und als Ware gekauft und verkauft wird. Der Gebrauchswert der Ware ist es, zu Kauf und Verkauf zu dienen, und auch, durch den korrekten Vollzug dieser Handlungen, Repräsentanz und Zustimmung zu erwerben, was erst erlaubt, die Ware im Konsum zu gebrauchen. Womit wir uns nun der Frage zuwenden, warum wir unsere drei Bücher gekauft haben.

 

2

Beginnen wir mit „Der Atem des Himmels“. Die Geschichte, die uns Bilgeri erzählt, ist recht einfach gestrickt und erscheint, vielleicht gerade deswegen, recht glaubwürdig. Eine junge Frau tritt ihre Stelle als Lehrerein in einem kleinen alpinen Dorf in Vorarlberg an. Die Ereignisse finden bald nach dem Krieg statt, noch während Österreich besetzt ist. Die junge Frau hat sich aus ihren familiären Bindungen – sie stammt aus kleinem, feinem, verarmtem Landadel – freigemacht, was ebenso notwendig wie auch erleichtert wurde durch den Tod des Vaters und den gerade noch aufgehaltenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ruin. Die junge Frau jedenfalls ergreift die Möglichkeit, die ihr dieser Ausbruch aus ihrem früheren konventionellen Leben bietet. Sie wird selbstständig und unabhängig, verdient ihr eigenes Geld und verliebt sich in den Kollegen im Schulhaus, in den Augen ihrer Mutter eine nicht standesgemäße Liaison, in ihren Augen fügt es sich trefflich in ihr neues Leben. Aber der Großgrundbesitzer im Ort, auch von Adel, wirbt um die junge Lehrerin, unterstützt von seiner und ihrer Mutter, und ist gleichzeitig in eine Auseinandersetzung mit dem Lehrer und dem Bürgermeister verwickelt, wobei es um Lawinenschutz geht. Lehrer und Bürgermeister machen den Grafen dafür verantwortlich, dass Lawinenschutzeinrichtungen mit dessen Einverständnis abgebaut werden, um als Baumaterial auf den Höfen wieder aufzutauchen, wodurch der Graf seinen Einfluss auf die Bauern aufrecht erhält und ausbaut. Außerdem verweigert er den Verkauf eines Grundstücks an die Gemeinde, die darauf neue und bessere Schutzbauten ausführen möchte. Die Liebenden spinnen nun eine Intrige dergestalt, dass die junge Frau dem Grafen Hoffnungen macht, worauf er ihr zuliebe sich mit der Gemeinde einigt; doch bevor es zu neuen Schutzbauten kommen kann, begräbt eine Lawine nach einem ungewöhnlich milden und langen Herbst das Dorf. Im Zuge der Rettungsarbeiten kommt der junge Lehrer zu Tode. Der Roman endet damit, dass die junge Lehrerin, nun schon Direktorin der kleinen Schule (auch der Direktor kam bei dem Unglück um s Leben), ihr Kind, das sie vom Lehrer hat, und dessen Adoptivkind aufzieht.

Bilgeri hat uns einen Heimatroman aufgeschrieben. Allerdings unterscheidet er sich von dem in diesem Genre Üblichen durch zweierlei. Seine Sprache ist nicht die des Kolportageromans und auch nicht die des kreativen Schreibkurses und die Elemente des Heimatromans sind anders angeordnet, verschoben, durcheinander geworfen, mit anderen Bedeutungen versehen. Das Heimatgenre selbst spielt in einer ländlichen Welt, die als heile beschworen wird. In diese heile Welt bricht das Urbane herein in Gestalt des Verführerischen, des Künstlerisch-Künstlichen und des Gleichen. Demgegenüber bewahrt das Ländliche noch das Ungleiche, an dem alles seinen zugewiesenen Platz innehat, auch der die Umstürze der Moderne überdauernde Adel. Dem Einbruch des Urbanen, der meist herausragende Vertreter des Urtümlichen, Agrarischen, Schöpferischen an sich zu ziehen versucht, begegnet das Ländliche mit Intrige und der Preisgabe der Lächerlichkeit und dem happy end im Dorfwirtshaus, wo die Hochzeitsfeier stattfindet. Dies gilt nicht nur für Romane, seien es Heftchen mit 60 Seiten oder Wälzer mit 500, sondern ebenso für Filme und auch das Lied „I wü ham noch Fürstenfeld“, mit dem die Popgruppe STS die Charts eroberte, funktioniert nach demselben skandalösen Mechanismus.

Bei Bilgeri aber sind diese Elemente durchwegs nicht geordnet, nicht erkennbar. Die heile Welt ist nur eine semipermeable Haut, worunter neurotische Verstörung und Rückständigkeit zum Vorschein kommt. Das Urbane ist schon längst im Dorf eingenistet, seine Verlockung wirkt nicht mehr aus der Ferne – der Lehrer spielt auf seinem Saxophon die neuesten Kompositionen Charlie Parkers nach. Aus der Ferne der Stadt droht nur die Enge der kleinadligen Existenz, in der die Mutter der jungen Frau die Emanzipation ihrer Tochter beklagt, deren Lebensweise nicht standesgemäß ist. Der Adel ist nicht Garant dafür, dass alles an seinem Platz ist, noch dazu wo dieser Platz durch die Verstrickungen in den Faschismus nicht sauber ist. Bilgeri verweigert auch das happy end nach dem Gelingen der Intrige, die das Unheil nicht aufhalten konnte. Das alles ist aber in einem breiten Erzählton geschildert, der mit großer Liebe und Hingabe an das Epische genauso wie mit genauer Kenntnis der Tonschläge aufwartet. Auch hier ist also ein Bruch wahrnehmbar. Während im Heimatgenre mit großer Gemütlichkeit und Breite operiert wird, wird in Bilgeris Roman gerade dieses Gemütliche und Breite eingesetzt, um das Bedrohliche, Fragile, Katastrophische noch stärker zu betonen.

Und unversehens erwächst aus dem Heimatroman ein Lehrstück. Aber Bilgeri ist dabei nicht dozierend, seine Verfremdungen stelzen nicht brechtisch daher, wir nehmen sie erst langsam wahr, auch weil die Zeit (knapp nach dem Krieg) und der Ort (alpine Rückständigkeit noch ohne Fremdenverkehr) uns ohnehin exotisch genug sind. Bilgeri legt es nur darauf an, nichts als eine große Geschichte zu erzählen, zur Unterhaltung, zur Erbauung und zum Ruhm seiner Vorfahren. Und er erzählt sie gut und mit wirklich schöner Sprache.

Die Geschichte aus Wolf Haas’ „Das Wetter vor fünfzehn Jahren“ entstammt einem anderen Genre – dem Entwicklungsroman. Hier passiert Folgendes: Ein deutsches Ehepaar fährt mit seinem Sohn Jahr für Jahr in denselben Ort auf Urlaub. Die Wirtsleute haben eine Tochter im gleichen Alter und die Kinder kommen einander durch die Abfolge der Sommer immer näher, bis sie ihre erste Liebe erleben. Genau an diesem Punkt kulminiert das Geschehen zu einer Katastrophe. Die Jugendlichen werden von einem Unwetter überrascht, flüchten in eine nahe gelegene Hütte des Vaters des Mädchens, der dort ein Warenlager für den Schwarzmarkt führt. Sie finden Unterschlupf, verriegeln die Tür und verschwinden im Heu. Der Vater allerdings unterhält, wovon niemand weiß und auch die Lesenden erst gegen Ende des Romans erfahren, ein Verhältnis mit der Mutter des Jungen. Just, als die beiden Pubertierenden zu einander finden (im Roman wird nie klar ausgesprochen, ob sie das erste Mal miteinander geschlafen haben, wenn es auch nahe gelegt wird), versucht der Vater des Mädchen Einlass in die Hütte zu finden. Die Jugendlichen hören sein Klopfen nicht – weil sie miteinander zu sehr beschäftigt sind oder weil das Unwetter zu laut ist –, der Vater stürzt im Gewitter in einen angeschwollenen, plötzlich Hochwasser führenden Bach und kommt um. Das ist der Grund für die plötzliche Abreise der deutschen Familie und für die nun gestörte Entwicklung des Jungen.

Seit dieser Zeit ist er fixiert auf das Wetter seines ehemaligen Urlaubsorts, kennt von jedem Tag den Wetterbericht und ist ansonsten, wenn auch nicht sozial auffällig – er hat eine typische Höhereangestelltenkarriere –, so doch keiner tieferen Bindung fähig. Sein Freund, der seine Fixiertheit für eine Marotte hält, will ihm helfen. Zum einen meldet er ihn mit seinen Wetterkenntnissen zur Wettshow Gottschalks an, zum anderen – er erfährt von dem Urlaubsort und der Jugendliebe – fälscht er eine Postkarte so, als wäre sie eben von ihr. Unser Romanheld fährt daraufhin in den Ort seiner Kindheitsurlaube, nur um zu erfahren, dass seine Jugendfreundin einige Tage vor der Heirat steht. Am Tag der Hochzeit geht er noch einmal die Stationen seiner Jugend ab und betritt dabei die nun schon verwahrloste Schmugglerhütte. Dort scheint sich das Unglück zu wiederholen. Der Boden der alten Hütte bricht ein und begräbt den Romanhelden im Keller. Dort kommt es zur Katharsis. Er findet im Müll der Hütte Briefe seiner Mutter an den Wirt und erfährt von ihren Ehebrüchen in eben diesem Raum. Dass der Wirt also an jenem Unwettertag Zuflucht suchte, war nicht dem Unwetter geschuldet, sondern er hatte sich zu einem Schäferstündchen eingefunden, das offensichtlich wegen des Gewitters in s Wasser gefallen war.

Hier lösen sich die Schuldgefühle und Verdrängungen unseres Helden auf, geläutert macht er sich daran, seine Rettung in die Wege zu leiten und eine Heirat zu verhindern, von der er annimmt, seine Jugendliebe hätte ihr nur zugestimmt, weil sie sich zu ihrer wahren Liebe – zu ihm – nicht bekennen kann, da sie unter ähnlichen Schuldgefühlen wie er leide wegen des Tods ihres Vaters. Es gelingt auch unter dramatischen Umständen, die Hochzeit zur Rettung des Verschütteten zu unterbrechen. Der Schluss bleibt offen. Bei der Bergung ist passenderweise der Bräutigam verunglückt und es liegt an den beiden jetzt erwachsenen Jugendlieben, ob sie noch einmal zu einander finden.

Der Plot ist ganz typisch für einen Bildungs- oder Entwicklungsroman. Eine Chronologie von der Jugend bis zum gereiften, seiner selbst gewissen Erwachsenen (und bei Haas steht der Mann in diesem Bildungsschema typischerweise im Mittelpunkt) zeichnet die Schicksalsschläge und Entwicklungen nach, ausgehend von einer neurotischen Marotte, die die Reife des erwachsenen Mannes verhindert. Wie sie entstand, wird tiefschürfend dargestellt (und es gehört zur Haas’schen Ironie, dass die Katastrophen alle mit der Erde zu tun haben: Verschüttungen und Grubenunglücke stehen im Zentrum dieses Romans), wie sie überwunden werden muss und wie dies gelingt; zwar mit Hilfe von Freunden, letzten Endes aber durch die Selbstaufklärung unseres Helden.

Der Plot ist also typisch und auch nicht sonderlich bewegend. Am Anfang dieses Buches mag vielleicht wirklich die Frage des Autors gestanden sein, was Leute wohl dazu antreibt, sonderbarste Steckenpferde zu reiten, mit denen sie sich dann im Fernsehen produzieren. Dazu mag eine kleine schriftstellerische Phantasie aufgezuckt sein, die andere, vielleicht auch Haas selbst, wegen ihrer Trivialität wieder verworfen hätten, wäre da nicht Haas’ gestalterische Phantasie dazwischen getreten. Haas hat nämlich diese Geschichte geschrieben, indem er sie nicht geschrieben hat. Wer das Buch zur Hand nimmt, liest ein Interview einer „Literaturbeilage“ mit dem Autor. Im Zuge dieses Interviews erst entsteht die ganze Erzählung, der Plot mit seiner Pointe wird dann buchstäblich auf der letzten Seite vollständig. Haas hat nun die Freiheit gewonnen, mit Distanz und Ironie ein furioses Rate- und Versteckspiel den Lesenden vorzusetzen, er braucht sich um keine Chronologie und schon gar nicht um die Banalität seiner Vorlage zu kümmern, er kann das triviale Leben, das sein Held ohne Höhepunkte lebt, in dieser Trivialität zeigen und gleichzeitig zeigen, was daran noch als Vorlage für einen Roman dienen kann. Und indem er diesen Roman nicht schreibt, entfaltet er alle Meisterschaft in der Beherrschung postmoderner Ästhetik und nimmt sein Publikum auf eine vergnügliche Auseinandersetzung mit; vorausgesetzt, dieses Publikum lässt sich auf die Ironie ein, die sich auf sich beschränkt und darüber hinaus nicht mehr viel anbietet außer sprachlicher Meisterschaft.

„Entfernung“ von Marlene Streeruwitz erzählt von einer Frau, deren Beziehung zerbrochen ist durch Verrat des Mannes und deren Job im Kulturmanagement gekündigt wurde. Sie fährt nach London, um dort ein Projekt zu ventilieren, das ihr ihren beruflichen Verlust kompensieren soll. Dieses Vorhaben misslingt und wir begleiten die Heldin nun in London, wo sie die Zeit bis zum Rückflug nach Wien verbringt und ziellos von einer Situation in die andere fällt. Ziellos bedeutet dabei aber nicht unreflektiert. Wir werden zu ZeugInnen ihrer Gefühle, ihrer Wahrnehmungen und ihrer Reaktionen, beziehungsweise ihrer Suche nach angemessenen Reaktionen auf das, das ihr widerfährt. Aber auch ihre Reaktionen widerfahren ihr, sie ist verunsichert und wird nicht gewollt, wenn sie gewollt wird oder ist, dann nicht in ihrem Sinne, nicht so, wie sie gewollt sein will, was sie sich aber wieder selbst zum Vorwurf macht oder auf der Basis ihres beruflichen Abstiegs widerspiegelt. So etwa landet sie in einem Klub, in dem eine Frauenband spielt, von der sie ganz mitgerissen ist, dies aber sofort dahingehend überprüft, wie sie professionell darauf reagiert hätte mit weiterem Vorspiel, Vertrag, Lancieren eines Projekts, beruflichem professionellem Erfolg. Damit stellt sie ihre einfache Begeisterung für die Band, der sie erst erlegen ist, gleich wieder in Frage.

Ihre Freiheit, die ihr durch das Ende ihrer Beziehung und ihrer beruflichen Laufbahn (in beiden Fällen durch Jüngere ersetzt) in den Schoss fällt, kann sie zwar austesten – sie lässt sich auf Situationen ein, in die sie sich vorher nur mit Distanz und Souveränität begeben hätte –, aber sie ist nur Getriebene. Sie kann nur ihr Unglück erkennen und auch das nur als den Lauf der Dinge. Insofern ist auch, dass sie just dann in der Londoner Metro fährt, als darin von Terroristen eine Bombe zur Explosion gebracht wird, nichts Besonderes. Sie reagiert darauf genauso wie auf alle anderen Schläge: mit einer Frage danach, warum ihr das zustoßen musste und mit dem Erkennen, dass ihr immer zustößt, was diese Welt zum Zustoßen bereit hält. Lange Zeit war sie auf der Seite dieser Welt und hat ihren Regeln gefolgt. Umso schwerer fällt es jetzt, das Verwerfliche an diesen Regeln zu kritisieren, wo sie doch selbst gemeint hat, sich mit und in diesen Regeln einrichten zu können. Wir werden ZeugInnen dieses Zustands, der um sich selbst kreist, ohne ausbrechen zu können. Nicht einmal die Erkenntnis, dass es anderen auch so geht, ihren Widersachern auch einmal so gehen wird, dämmert als Trost auf. Die Frau ist völlig allein gelassen. Der Roman endet, ehe die Frau den Rückflug nach Wien antritt. Er kann hier enden wie auch anderswo, da überall dasselbe ihr zustoßen wird.

Das Frappierende an diesem Roman ist, dass nichts Angenehmes für diese Frau bereit gehalten wird. Angesichts der Katastrophe des beruflichen Abstiegs ist auch ihr vorheriger Aufstieg nichts, an das zu erinnern sich lohnte. Das Überleben des Attentats in der U-Bahn ist nicht mit Erleichterung verbunden, sondern mit der Mühsal des Weitermachens und dem Selbstvorwurf, in dieser Situation keine Heldin gewesen zu sein. Dieser Mühsal entspricht auch die Sprache, mit der Marlene Streeruwitz zu uns über die Frau spricht: angefangene, abgebrochene Nebensätze führen in eine Introspektion, in der sich der Gestus der allwissenden Erzählerin mit dem inneren Monolog der Heldin – oder des Opfers – vermischt, grad so, als würde sich die eine in der anderen widerspiegeln, die eine durch die andere ausdrücken. Nur manchmal brechen ganze Sätze mit korrekter Interpunktion in diesen Erzählfluss herein, stehen, dann aber völlig fremd und unverständlich, als unwillkommene Störung da. Irgendetwas von außen macht sich bemerkbar und erzwingt Aufmerksamkeit, die zu geben Mühe macht – jetzt auch schon den Lesenden, die zwar für die Ablenkung dankbar sind, wieder mit etwas Realem konfrontiert zu werden, dieses Reale aber in seiner Brüchigkeit erkennen und davor zurückschrecken, auf etwas achten zu müssen, dessen Erhalt mit Kosten verbunden ist, die erst kalkuliert werden müssen.

Diese Sprache, verkürzt, reduziert auf das Wesentliche und sei es um den Preis der Grammatik, macht sich so sehr verständlich, dass sie mit Autorin, Heldin –  oder Opfer – und Lesenden verschmilzt. Dieses Verschmelzen evoziert eine Ausweglosigkeit, der das globale Gefüge dieser Welt entspricht: Gleich, wo du hinkommst, wird an Deinem Grab gegraben. So mag es auch nicht mehr wundern, dass in London Leute auftauchen, die der Frau auch in Wien hätten begegnen können. Es hätte auch für den Roman keinerlei Bedeutung gehabt, wo diese Leute die Frau gestellt hätten, denn was sie von ihr gewollt oder nicht gewollt hätten, wäre an jedem Ort und zu jeder Zeit die gleiche Zumutung gewesen. Auch das Treffen, Kennenlernen oder wenigstens Begegnen mit anderen, weniger widerwärtigen, ja interessanten oder liebenswerten Leuten ändert nichts an der allgemeinen Stimmung, nichts am Schicksal. Es gehört eben dazu, ändert nichts und hinterlässt nur die Unruhe, nicht angemessen reagiert zu haben, wobei das Maß der Angemessenheit auch nur selbst bestimmt werden kann und nichts dazu tut.

Die Liebe, die verratene wie die unmögliche, selbst die in kurzen funktionalen Verhältnissen formalisierte wie auch die, die sich nur als geringe Achtung, als Höflichkeit ausdrückt, ebenso wie die Katastrophen zeigen sich in diesem Roman nur als die Bewegungen einer vereinheitlichten Welt am Leib der Heldin – des Opfers –, auf die sie mit introspektiver Suche nach angemessener Reaktion reagiert. Sie wird dabei einer Vergeblichkeit gewahr, die die Autorin darin ausdrückt, dass in diesem Roman nichts geschieht, was nicht schon geschehen ist, nichts geschieht, was die Heldin – das Opfer – überraschen könnte. Die Sprache, die Streeruwitz dazu einsetzt, verweist genau darauf: Hier ist nichts geschrieben, was wir nicht selbst denken, in kurzen, bruchstückhaften Gedanken wahrnehmen und gleich wieder in Frage stellen würden. Diese Sprache der Gedanken, die uns kommentierend oder auch nur plappernd, vergewissernd und auch nicht, begleiten, ist uns vertraut und wird ganz schnell – trotz ihrer Künstlichkeit, trotz ihres künstlerischen Einsatzes – so alltäglich wie die ebenso zersplitterte und reduzierte Sprache von Nachrichtensendungen.

 

3

Wir haben also unsere drei Bücher gekauft und gelesen. Wir müssen jetzt noch die Frage beantworten, warum sie Kunst sein sollen und warum wir sie gekauft haben. Als Kunst stellen sie ein Abbild unserer Gesellschaft dar, wenn sie dies mit künstlerischen Mitteln tun. Das Abbild drückt sich in seiner Künstlichkeit dadurch aus, dass das Konterfei der Vorlage entspricht, ja sogar gewisse Züge deutlicher macht und hervorhebt. Das Künstlerische aber gibt die inhaltliche Dimension dieser Hervorhebung oder Betonung an, befasst sich also mit der Ausführung insoweit, als sie der Hervorhebung dient. Gleichzeitig erhebt aber das Künstlerische den Anspruch, die inhaltliche Stellungnahme (also die Selbstdeklaration als Künstlerin oder als Künstler) habe absoluten Vorrang gegenüber der handwerklichen Virtuosität. Wir kennen diesen Diskurs aus der avantgardistischen Pose, die damit gleichzeitig den Anspruch erhebt, das Kunstwerk selbst schon zu zerstören, wenn ein jedes Recht und Vermögen habe, sich künstlerisch auszudrücken. Ebenso kennen wir diesen Diskurs aus der linken, politischen Kunst, die dann auch gerne gar nicht mehr von Kunst spricht, die KünstlerInnen als „Kulturschaffende“ dem politischen Diskurs einverleibt. Es ist aber – und hier schlägt die Moderne, also bürgerliche Geselligkeit (oder Gesellschaft) in die gleiche Kerbe – auch der Kurs für kreatives Schreiben (hier offen in seiner Marktform) eben diesem Anspruch geschuldet und durch eben diesen Anspruch möglich.

Sowohl Politik als auch Avantgarde lassen also das Kunstwerk verschwinden, wobei die Avantgarde mit ihrer Forderung, alles sei Kunst, auch das Geschaffene an dieser Gesellschaft gleich mit angreift, die Politik aber die Kunst ihrer Entfremdung befreien und zum Vehikel für ihr Projekt der Gestaltung der Gesellschaft machen möchte. Im Falle der Avantgarde soll das Bedürfnis nach Erbauung und Unterhaltung nun nicht mehr bedient von SpezialistInnen werden, sondern durch eigene Aktion und Schöpfung der Menschen selbst. Diesen Anspruch erhebt auch die Politik, lässt aber die inhaltliche Gleichgültigkeit der Avantgarde gegenüber der künstlerischen Schöpfung nicht gelten.

Bleiben wir hier noch einmal stehen und rekapitulieren das Dilemma:  Das Künstlerische hebt die Bedeutung des inhaltlichen Diskurses gegenüber der Virtuosität hervor, in letzter Konsequenz führt dies aber zur Zerstörung des Kunstwerks selbst. Entweder das Inhaltliche tritt als Meinungsfreiheit und Selbstverwirklichung gegenüber dem ausgebildeten Spezialistentum so weit hervor, dass jede Äußerung gleichzeitig als künstlerische zu denken ist, dann ist das Künstlerische ad absurdum geführt. Wir kennen diese Programme von Andy Warhol oder aus der Wiener Gruppe mit ihrem poetischen Akt. Oder das Inhaltliche tritt als prononcierte, geförderte Ausrichtung in das Kunstwerk dergestalt, dass die Gestalt des Kunstwerks selbst keine Rolle mehr spielt, dann spielt auch die diffizile Ausbildung und Selbstbildung der KünstlerInnen keine Rolle mehr. In beiden Fällen wird aber auch das Künstliche angegriffen, sowohl was die Abbildung betrifft, die Nachbildung, da die Vorlage ohnehin verworfen wurde, als auch, was das „künstlich Feine“, also die Kunstfertigkeit, die keine Rolle spielen darf anbelangt.

Diesem Dilemma entgehen zu wollen, heißt, die Kunst in ihren scheinbaren Autonomie, in ihrer scheinbar eigenen Sphäre erhalten zu wollen durch Behauptung ihrer Elemente, also Meisterschaft in der Performanz als auch Beherrschung und Aufrechterhaltung der eigenen diskursiven Ebene, womit wir wieder bei unseren Büchern wären. Autoren und Autorin verschränken beim Schreiben ihrer Romane das Künstliche und das Künstlerische; das Künstliche, indem sie ein genaues, präzises Abbild der Gesellschaft, respective dessen, was sie daran bewegt, was sie daran umtreibt, geben: Bilgeri beschreibt den Einbruch der Moderne in die überlebten, nun nicht mehr wohl geordneten Verhältnisse der Nachkriegsgesellschaft auf dem Dorf, Haas setzt sich mit den inhaltlich immer mehr sich entleerenden Diskursen um die Literatur auseinander angesichts ihres Gegenstandes, Schicksale von Menschen, die verwechselbarer und banaler nicht mehr sein können, die aber interessant gefunden werden müssen, Streeruwitz seziert das Unglück – individuell wie allgemein –, das als solches nicht mehr wahrgenommen wird am besonderen des Frauenschicksals und der Bedeutung von Kulturmanagement und -vermittlung, was auch nicht mehr als etwas Besonderes erscheint, sondern in den allgemeinen Bewegungen der globalisierten Welt untergeht.

Die Darstellung dessen nimmt aber bei ihnen jeweils einzelne, unverwechselbare Züge an. Hier bringen sie ihr Künstlerisches als ihr eigenes Unterfangen ein. Hier zeigen sie ihre Kompetenz beim Abbilden sowohl in der Durchdringung und Erfassung ihres Gegenstands als auch bei der Wahl der Mittel zu dieser Abbildung; Mittel, die das Künstlerische am Künstlichen betonen, Mittel, die auf die nicht wissenschaftlich-analytische Seite der Abbildung hindrängen, sondern die Intuition auch dem Publikum zu dessen Unterhaltung und Erbauung auferlegen. Das Publikum wird auf die repräsentative Aufgabe des Kunstwerks hingeführt mit dem Verweis, dass zum Gelingen dieser Aufgabe das Publikum das Seine an Aufnahme, Interpretation, Mitschöpfung beizutragen habe, und sei es auch bloß dadurch, dass dem Kunstwerk Recht gegeben wird.

Das Kunstmittel, das Bilgeri einsetzt, ist das der Perfektion schöner Sprache. Er zeigt sich seinem Publikum mit einer Meisterschaft, die von der Beherrschung literarischer Formen spricht, die es auch zulässt, dass die Formengrammatik selbst zerlegt und zu überraschenden Gebilden neu zusammengesetzt werden kann. Verstörungen, die dabei entstehen mögen, lösen sich immer wieder in Harmonien auf, ohne dass dabei, die Neuzusammensetzung dementiert wird. Dabei ist diese Neuformierung nicht dem Erfinden von Neuem gedankt, sondern dem souveränen Umgang mit dem Bekannten, der den Einbruch von Ungewohntem aushält und mit einkalkuliert. Insofern ist Bilgeri ein Klassiker, kein stürmischer Neuerer, und erinnert ein wenig an Mozart.

Bei Haas liegen die Dinge ein wenig anders. Ihm geht es um das Neue, und das nicht nur für einen Stil den er prägt, sondern für jedes einzelne Werk, das er vorlegt. Nachdem er in seinem Brennerzyklus einen völlig neuen, im wahrsten Sinne des Wortes unerhörten Erzählduktus eingeführt hat, nachdem er den Erzähler dieses Zyklus sterben ließ; nachdem er zwischendurch eine wunderbare, viel zu wenig gewürdigte Verschwörungstheorie über die Formel 1 im Automotorsport im klassischen Erzählstil vorgelegt hat, stellte sich für ich die Frage nach der nächsten Art, einen Roman aufzubereiten. Er soll ja ein ganz lustiger Kampl sein (unvergessen wird mir bleiben, wie er in einem Radiogespräch – ich glaube, mich zu erinnern, mit Christine Nöstlinger – auf die Frage, was er denn nun gerade mache, zur Freude von – wie ich glaube – Nöstlinger erklärte, er mache gerade nichts, was er nicht weiter ausführen wolle, außer, dass es ihm dabei gut gehe), jeden Falls kann ich ihn mir gut vorstellen, wie er angesichts einer ganz banalen Geschichte, die ihm gerade eingefallen ist, die ein hübsch lustiger Funke Phantasie ist, wie sie einem einfällt, wenn eins sich zu einem Gesicht, das einem in der Straße vorüber läuft, schnell eine Geschichte dazu erfindet, wie er also diese nicht gleich wieder vergessen will, sondern, wenn er schon davon lebt, Geschichten sich auszudenken, für sie eine Form zu finden sucht, in der sie ebenso interessant zu verkaufen wie auch zu schreiben ist – denn wenn die Geschichte selbst nur die Banalität einer kleinbürgerlichen neurotischen Existenz ist, gefangen in einer kleinen Phantasie, dann soll es wenigstens lustig sein, sie zu Papier zu bringen. Und so überrascht Haas seine Fans mit einer neuen formalen Volte und bleibt, was auch nicht ohne ist, sich treu (wenn auch der Verdacht besteht, die Liebe zur Originalität könnte auch einer Berufskrankheit des professionellen Werbetexters entspringen).

Streeruwitz greift zu einem künstlerischen Mittel, das uns, das Publikum, sofort und radikal mit einschließt. Der innere Monolog, den sie entfaltet, ist unserer. Was da in diesem Roman vor sich hin denkt, sind unsere Gedanken – nicht was wir denken, sondern wie wir denken: ratlos assoziativ, sprunghaft, allein gelassen, sofort verwerfend, was wir uns gerade mühsam und bruchstückhaft zurecht gelegt haben. Es ist uns unmöglich, uns darin nicht zu erkennen, wir können auch nicht erkennen, denkt da die Autorin oder ihre Figur. Wir treiben in einem – sprachlichen, künstlerischen – Strudel, der offensichtlich alles erfasst hat, der allgemeine Gültigkeit beansprucht, wenngleich und obwohl er keine Sicherheit anzubieten hat, außer dass es allen anderen genauso geht, und die Unsicherheit, ob alle anderen das auch wirklich so erfahren. Wo Haas noch das Vergnügen zulässt, mit ironischer Distanz den verwechselbaren und wiederholten Dummheiten unserer Existenz von außen beizuwohnen und sich entfernt zu halten, zieht „Entfernung“ alle, die damit zu tun haben, in ein unbewohnbares Inneres, in einen inneren Monolog, der unserer ist. Streeruwitz macht sich, ihre Figur und uns mit der Welt gemein.

Die Charakteristik der beschriebenen Stilmittel und Kunstfertigkeiten hat dabei ihre durchaus ironischen Seiten; ironische Seiten, die uns auf das verweisen, was wir an Zumutungen schon gewohnt sind. Dass uns die klassische Schönheit von Bilgeris Sprache so vertraut und angenehm ist, obwohl uns keines je begegnen wird, das wirklich so zu uns spricht, hat seine Entsprechung im zerrissenen inneren Monolog von Streeruwitz’ Roman, der für uns so mühsam ist wie alles, womit wir zu tun haben; also im Prinzip vertraut – es ist unsere Art, innerlich zu stammeln oder uns zu reflektieren –, aber als öffentliche Sprache doch nicht so recht zulässig. Dass Bilgeri um seine Anerkennung als Künstler ringt und nicht nur als Pop- und Rockmusiker gesehen werden will und dazu seine Meisterschaft auch jenseits der Austrocharts so sehr betont, hat wieder eine Entsprechung in den Stellungnahmen Streeruwitz’, die eine Sprache sucht und propagiert, die die Frauen (und uns alle, möchte ich gern hinzufügen, wenn ich darf; wohl eingedenk dessen, dass Streeruwitz für die spricht und für die eine Sprache sucht, die zur Gesellschaft nicht ganz zugelassen sind, die Frauen) zur Öffentlichkeit ermutigt – nicht zur Teilhabe an der bürgerlichen Subjektivität mit NLP-Kompatibilität, sondern zur öffentlichen Kritik mit eigener Sprache, die just für diese Kritik an just diesen Inhalten errungen wurde. Aber auch dieses Programm ist ein künstlerisches, dessen Kunstwerk allerdings als negatives Bild unser selbst und als Vorlage von noch nicht Dagewesenem, von Unerhörtem ersteht.

 

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Das Kunstwerk tritt uns als Ware entgegen. Das beinhaltet auch, dass das Kunstwerk sein Originäres, seinen Schöpfungsakt, außerhalb der Warenform findet. Innerhalb der Warenform aber erfüllt das Kunstwerk seine Aufgabe darin, uns über die Warenform aufzuklären und dabei uns mit Tauschwert und Gebrauchswert vertraut zu machen. Die Lektion, die wir dabei lernen, ist, dass sowohl Gebrauchswert als auch Tauschwert gegenüber dem Inhalt des als Ware produzierten und gehandelten Dings vollkommen neutral sind. Der Tauschwert sieht von den Intentionen der KünstlerInnen, die diese auf ihre Produkten übertragen sehen wollen, zur Gänze ab. Der Gebrauchswert wiederum heftet sich an die Repräsentanz der Gesellschaft und erklärt dort, dass alles, was wir unter den gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen als Reichtum, als gutes Leben, als Befriedigung von Bedürfnissen verstanden wissen wollen, uns aneignen wollen, nur durch die Warenform hindurch zu erlangen ist. Diese Warenform verlangt aber nach der ökonomischen Wiederholbarkeit und sperrt sich gegen die Einmaligkeit.

Das hat Benjamin mit den Begriffen des Originals und der Aura zu fassen versucht, greift aber meines Erachtens – vor allem im Hinblick auf jüngste Entwicklungen zu kurz. Heutigentags finden wir Kunstwerke vor, die das Auratische der Kopie schon einzuverleiben wissen. Originalfotos, also Negative oder erste Abzüge, sind schon ein Widerspruch in sich, bootlegs werden gegenüber autorisierten Aufnahmen vorgezogen, wenigstens von einem faszinierten Publikum, und der legendäre Magritte darf als clownesker Ahnherr dieser Entwicklung angesehen werden mit seiner Attitüde, offensichtliche Fälschungen als echte Magrittes anzuerkennen. Wo das Kunstwerk uns aber als Ware entgegen tritt, haben auch die KünstlerInnen ihr Recht verloren. Sie fungieren nun mehr nur als die Unternehmer eines Betriebs, so weit sie von ihrer künstlerischen Produktion ihr individuelles Überleben garantieren wollen. Damit tendiert das Künstlerische dazu, zur Frage nach der Marktlücke zu verkommen. Indes tritt in den Vordergrund, warum überhaupt ein Kunstwerk besessen, betrachtet, konsumiert werden muss.

Es wird zu einem Gegenstand der Repräsentation – nun aber nicht mehr der Repräsentanz des Gegenstands, der als Vorlage dient, sondern der Repräsentanz von uns selbst in einem direkten Zusammenhang. Nicht mehr die soziale Stellung der Auftraggebenden wird durch die (oft nur einmalige) Ausstellung eines Kunstwerks gewürdigt, sondern der Betrieb der Warenproduktion selbst. Dass Kunst nun gegen ihre eigene Intention und Anstrengung für alle sein soll, mögen sie nun die künstlerische Anstrengung erkennen und nachvollziehen können oder nicht, macht die bürgerliche Kunst erst aus und bringt sie um: Sie ist nun einmal nicht die scheinautonome Sphäre mit ihrer eigenen Diskursivität, als die sie erscheinen möchte, sondern – jenseits von Kanon und Verbindlichkeit, jenseits auch von E, U und Pop – eine Markthalle, in der ein jedes, das die Standgebühren bezahlt, seine Produkte feil halten kann. Das Beharren auf der intuitiven Kompetenz erlaubt den KünstlerInnen bloß, damit in eine Konkurrenz einzutreten, in der die Ware ihre Probe auf s Exempel macht. So wird aus der intuitiven Kompetenz bloß noch das Markenzeichen des Kunstunternehmers, so ist es auch kein Wunder, wenn die KünstlerInnen darauf bestehen, als KünstlerInnen apostrophiert zu werden oder eben nicht.

Beides trägt der Tatsache Rechnung, dass wir in einer Gesellschaft leben und uns verständigen, die als Handelnde in dieser Gesellschaft nur Subjekte in ihrer Willkürlichkeit mit ihren jeweiligen Unternehmungen kennt. Kunst ist dann nur eine dieser Unternehmungen unter vielen anderen und die sensibleren, aufgeweckteren unter den KünstlerInnen formulieren dies auch, als revolutionäre Pose der Avantgarde oder als demokratischen Auftrag und. Daneben entsteht ein Managertum, das allen, die sich als KünstlerInnen verstehen, die entsprechenden Infrastrukturen und Markthallen liefert. Die Grenzen zwischen Arbeitszeit und Freizeit verschwimmen also auch hier, es kommt zu einer Kunstindustrie in Analogie zur Freizeitindustrie, ob KünstlerInnen dann DienstleisterInnen sind oder Dienstleistungen in Anspruch nehmen, ist auch nicht mehr ganz klar. Jedenfalls tendiert das Kunstwerk dazu, seine technische Reproduzierbarkeit nicht mehr gegen auratische Originalität zu setzen, sondern, diese Reproduzierbarkeit als Merkmal der Warenförmigkeit in Rechnung zu stellen auch schon bei der Formulierung der performativen Konzepte, während die KünstlerInnen die geforderte Individualisierung und Flexibilität in der postfordistischen Phase der modernen kapitalistischen Gesellschaft mit der sozialen Sicherung als teilnehmende bürgerliche Arbeitssubjekte in Einklang zu bringen versuchen. Wo aber Kunst sich noch aufmacht, mit dem getreuen Abbild die Widerwärtigkeit, die Perspektivlosigkeit, die Reproduktionsunfähigkeit unserer Gesellschaft bloßzulegen, bringt sie die KünstlerInnen in eine Position, in der sie wenigstens ansatz- und versuchsweise die subjektive Position als gesellschaftlich Handelnde aufgeben und die Position als KritikerIn einnehmen. Auch dies deutet aber nur darauf hin, dass Kunst in dem Moment, wo sie vom Himmel auf die Erde geholt wurde, wo sie nicht mehr zur Darstellung des Göttlichen dient, sondern das Menschliche nachzeichnet, in dem Moment, wo sie ihre eigene Sphäre konstituiert, diese auch schon wieder verliert. Diesen Verlust machen wir wett, indem wir nachträglich die Kunst, die vordem an das Religiöse gebunden war, aus dieser Bindung lösen und zu unseren Vorläufern machen, einem Euripides etwa mit Ontologie und Psychoanalyse zu Leibe rücken und unsere Kunstlosigkeit mit vergangener Größe vertuschen.

Wir haben also die drei Bücher gelesen und festgestellt, dass deren Aufnahme uns überlassen bleibt, ebenso, wozu wir sie gelesen haben und welchen Gewinn wir aus solcher Lektüre ziehen wollen. Wir haben dann diesen Aufsatz gelesen und festgestellt, dass auch das, was wir aus der Reflexion gewinnen, zunächst noch der subjektiven Unternehmung zu verdanken ist. Eine Verbindlichkeit darüber hinaus, dass ein jedes für sich selbst zu sorgen hat, hält unsere Gesellschaft nicht bereit.